Wenig hat sich in den vergangenen 30 Jahren so sehr gewandelt wie das Verhalten der Menschen in der Öffentlichkeit. Das des Einzelnen, das in der Masse.
Es ist heute unmöglich, U-Bahn zu fahren, ohne belärmt und bequatscht zu werden. Wohlgemerkt, der Zug ist voller Alleinreisender, da finden keine durchaus angeregte Gespräche zwischen Menschen statt - doch halt: Da finden sehr wohl Gespräche zwischen Menschen statt, zwischen weit von einander entfernten Menschen, aber in einer Lautstärke und schamfreien Intensität, die im direkten Gespräch nebeneinander niemals verwendet würden. Es wird über Intimes gesprochen, als würde niemand zuhören können, als wäre man allein zu Hause am Telefon. Das ist gelebte Asozialität. Die anderen gibt es nicht. Und da werden die anderen nicht nur durch Lautstärke und Indezenz gestört, sondern da wird sich völlig unkritisch entblößt. Nun ist das nicht unbedingt ein Ausfluss von Exhibitionismus - das sicher in Einzelfällen auch - es ist eher Zeichen von Empathiemangel und Narzissmus: Da sind keine anderen. Und wird man die anderen auf einmal gewahr, etwa, indem man durch zufälligen Blickkontakt bemerkt, dass der andere offensichtlich die ganze Zeit neben einem steht und mitgehört haben wird, dann kann man schon einmal sehr böse werden.
Gleiche Umgebung, gleiche Symptomatik, gleiche Diagnose. Man bleibt gern im Ein- und Ausstiegsbereich (i. e. in der Tür) der U-Bahn stehen, auch wenn man noch viele Stationen zu fahren hat, und reagiert von verwirrt und erstaunt bis genervt, erbost und handgreiflich, wagt irgendjemand, aus- oder einsteigen zu wollen und dazu den Platz zu benötigen, den man selber in absoluter Bewusstlosigkeit eingenommen hat, einnimmt und einnehmen wird. Handelt es sich bei diesen bewusstlosen Okupanten um Frauen, kann es für einen männlichen ÖVP-Nutzer richtig gefährlich werden: Unerwünschter Körperkontakt = sexuelle Belästigung = Beschimpfung, Skandal, Polizei...
Zudem ist, ich bin Ohrenmensch, alles lauter geworden. Damit ist nicht nur das überlaute Musikhören im privaten Umfeld gemeint. Seit flächendeckender Etablierung wattstarker Stereoanlagen vor 40, 50 Jahren ist dieses Phänomen bekannt. Nein, es scheint heute Pflicht zu sein, freudige Gefühlsregungen mit Gelärm und Gegröhl zu begleiten. Es gibt kein internationales Fußballturnier mit deutscher Beteiligung mehr, zu dem nicht in jeder Kleinststadt Leinwände mit Bierständen aufgebaut werden, vor und an denen das Partyvolk die Sau rauslassen muss, um im Anschluss an ein von der eigenen Mannschaft gewonnenes Spiel die halbe Nacht hupend im Autokorso durch die Innenstädte zu kariolen.
Auch das von mir bereits angesprochene sommerliche Freizeitverhalten ist zwanghaft mit Lärm verbunden. Natürlich wird auf der Wiese nicht einfach gemeinsam gegessen und getrunken, nein, es muss gefeiert werden. Alles ist Event - und Event hat laut zu sein. Interessant, weil in diesem Zusammenhang entscheidend: Das Gelärme geschieht hierbei nicht einmal in provokativer Absicht, wie in den wilden früheren Zeiten, in denen es mindestens gegen das vermuffte Spießertum ging, wenn die Anlage aufgedreht wurde. Nein, sie wollen heute gar nicht provozieren, sie sind vielmehr absolut besinnungs- und verständnislos, und schlicht nicht in der Lage, zu erfassen, dass ihre Versuche der Lebensäußerung auch von anderen Menschen wahrgenommen werden, bzw. wahrgenommen werden müssen.
Der Lärm ist somit in voller Breite beim Spießer selbst angekommen.
Egal welches comedy-ähnliche Fernsehformat mit Publikum: Die Tribüne johlt, pfeift und trampelt bei jeder Äußerung des Protagonisten, zumeist aber einfach, um zu demonstrieren, dass sie da ist.
(Nebenbemerkung: es gibt Menschen, die noch nie einen miesen Film, ein schlecht inszeniertes Theaterstück, ein misslungenes Candlelight-Dinner, einen enttäuschenden Urlaub erlebt haben, denn da sie sich, umfassend informiert, erfahren, weltgewandt und geschmackssicher, wie sie sind, für diesen Kinobesuch, dieses Theater, dieses Restaurant und diesen Urlaubsort entschieden haben, ist klar, dass die getroffene Wahl erste Kategorie sein musste, somit auch war und deshalb gar nicht enttäuschen konnte.)
Auch bei nicht komikaffinen kulturellen Darbietungen gibt es keinen einfachen Applaus mehr - intensiv und anhaltend, mindestens ein Pfosten ist mit Sicherheit im Raum, der seine Anerkennung mit Pfiffen und Freudenjuchzern zum Ausdruck bringen muss.
Ich glaube, sie finden sich cool, locker, offen, spontan, unverkrampft und authentisch. Dabei sind sie doch nur angepasste, nachäffende und verkrampft fröhliche Spießer mit Tattoo und Piercing, die ihre zu Empfindungen noch fähigen Nachbarn kujonieren und belästigen.
Darf ich so über Menschen rechten? Weil mich die Lebensäußerungen dieser Menschen betreffen, mal mehr (was wirklich reicht), meistens weniger (durch freiwillig eingenommene Distanz), nehme ich mir das Recht, über sie zu urteilen.
"Zu einer Freizeitgesellschaft, die sich ganz offensichtlich nur um die Bedürfnisse von Autofahrern, Hunden, Hundebesitzern und aggressiven Befürwortern von Schönwettermißbrauch herumorganisiert, kann ein dezenter Lebensteilnehmer nur ein distanziertes Verhältnis haben." (Max Goldt, Ä, Zürich 1997, S, 157)
Nun war früher nicht alles besser. Früher war alles früher (Malmsheimer)... Aber ich alter Knochen muss doch feststellen, dass eine später als repressiv denunzierte Erziehung, die die Rücksicht auf andere Menschen in den Vordergrund stellte, im Heranwachsenden zumindest das Bewusstsein erzeugte, dass eigenes öffentliches Tun ab einer gewissen Intensität den Mitmenschen betreffen, berühren, stören oder verletzen kann.